Nach einer langen Reise kam ich am Bahnhof Pettenasco an. Mein Telefon funktionierte nicht und so hatte ich Glück, dass ein Franzose, der an dem Seminar zur radikalen Ehrlichkeit teilnahm, auch da war und die Trainer anrief, sodass wir abgeholt wurden.
Am „Haus Felicina“ warteten bereits eine Menge Leute. Da ich nach vielen Stunden in Bus und Zug müde war, duschte ich zunächst und ruhte mich aus.
Der Beginn des Workshops
Gegen 17 Uhr am 22. April 2023 begann das 8-Tage-Intensivprogramm zur radikalen Ehrlichkeit. Marvin und J. wurden von Gabriela unterstützt . Um einen reibungslosen Start zu gewährleisten, haben wir mit zwei Namensrunden begonnen.Die erste Partnerübung machte ich mit einem großen Mann mit lockigen Haaren. Es ging darum, uns die Erwartungen, die wir an diesen Workshop haben, mitzuteilen. Das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, dass es zu einem großen Gähnen ausartete.
Am ersten Tag hatten wir noch kein Abendprogramm. An den folgenden Abenden teilten wir unsere Lebensgeschichten. Nur ich habe meine morgens erzählt, weil ich am letzten Abend des Workshops dran kam und ich wollte, dass die Leute mein Leben vorher kennen.
Die Struktur der meisten Tage sah im Wesentlichen so aus:
Am Morgen machten wir Bewegungsübungen, Genuss-Yoga und Meditationen, gefolgt vom Frühstück. Danach begannen wir mit einer Austausch Runde und besprachen die Lebensgeschichten vom Vorabend. Zum Abschluss des Vormittags machten wir noch ein paar Übungen, meist zu zweit.
Dann gingen wir zum Mittagessen zum Centro d’Ompio und sahen zu, wie männliche Pfauen sich vor den Weibchen präsentierten und wir ihr wunderschönes Gefieder betrachten konnten.
Nach dem Mittagessen hatten wir etwas Zeit für uns. Wir konnten frei entscheiden, wie wir diese gestalteten. Unternehmung allein und mit jemand anderem oder einfach nur schlafen waren die Möglichkeiten
In der Nähe befand sich der wunderschöne Ortasee und auch zwei Wasserfälle. Ich war während unseres Aufenthalts bei allen drei. Die Kombination aus Workshop und schönem Urlaubsort war wirklich schön.
Das radikale Ehrlichkeits Seminar wurde nachmittags um 16:30 Uhr fortgesetzt. Das Anfangsprogramm änderte sich von Tag zu Tag. An manchen Tagen tanzten wir zu einem Lied und eine Person machte eine Tanzbewegung vor und alle anderen folgten. Die Person, welche die Bewegung vorführte, rotierte nach allen etwa etwa 15 bis 30 Sekunden. Dieses „Spiel“ war in gewisser Weise wirklich cool. Aber andererseits hatte ich auch Bedenken, weil ein Teil meines Verstandes mir sagte, dass die Tanzbewegung, die ich vorführe, irgendwie cool und gut sein müsste.
Die Theorie wechselte sich danach mit Partnerübungen oder Austausch-Runden ab. Die Theorie wurde von Gabriela wunderschön grafisch dargestellt.
Einige der Übungen und der Theorie haben mir sehr gut gefallen, andere nicht. Wirklich gut war der Bewusstseins-Verlauf.
Besonders gefallen hat mir die Zeichnung mit der Taschenlampe (siehe oben in der Mitte), die es sehr deutlich machte, wie wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Wahrnehmungen richten können. Auch die Dreierrunden am Morgen gefielen mir. Drei Teilnehmer kamen zusammen und tauschten sich über alles aus, was gerade in ihrem Verstand und Körper vorgeht oder welche wichtigen Dinge ihnen aufgefallen sind (Am Vortag, nachts oder im Moment). Die verbalen Tabus (oben rechts) haben mir die Formulierungen, die ich verwende, viel deutlicher bewusst gemacht. Vor allem das Wort „aber“ habe ich viel zu oft in meinem Sprachgebrauch verwendet.
Was mir nicht gefiel, war das Mitteilen, wie die eigene finanzielle Situation ist. Vor allem die Formulierung „Wie hoch ist dein Netto-Wert“ ist in meinen Augen verrückt. Wie kann schmutziges Papier mit Zahlen darauf jemals den eigenen Wert beschreiben? Die Übung bestand darin, mitzuteilen, was man verdient, wie viel man gespart und investiert hat usw. und auch den Wert von physischen Dingen wie Autos, Häusern oder anderen Anlagen. Manche Teilnehmer erwarteten auch ein Erbschaft. Und alles zusammen ist „Der Netto-Wert“ der jeweiligen Person.
Ich kann nicht sagen, ob meine Wahrnehmung der Wahrheit entspricht, aber ich hielt diese Übung für Blödsinn. Manche Leute sagten: Geld ist für sie nicht wichtig, aber gleichzeitig äußerten sie den Wunsch nach mehr Sicherheit durch mehr Geld.
Andere Übungen waren auch sehr interessant, wie zum Beispiel „Manchmal tue ich so, als ob …, während ich in Wirklichkeit … bin“. Oder die Übung „Ich bemerke“ (etwas, das mit den Augen sichtbar ist) und „Ich stelle mir vor“ (etwas, das vom Verstand kommt). Außerdem machten wir die „sollte“- und „nein“-Übung, bei der sich ein Partner immer etwas einfallen ließ, was er oder sie tun SOLLTE, und der andere immer mit „NEIN“ antwortete. Wir haben diese Übung auch mit externen Personen gemacht, wie er oder sie es tun SOLLTE (Eltern, Partner, Freunde).
Zum Abendessen gingen wir noch einmal hoch ins Centro, auf der Terrasse konnten wir während dem Essen noch die letzten Sonnenstrahlen erhaschen.
Lebensgeschichten
Der Lebensgeschichten-Teil des radikalen Ehrlichkeits-Seminars nach dem Abendessen war sehr interessant. Es war sehr emotional und ein bisschen wie im Kino, von jedem zu hören, welche Erfahrungen er oder sie gemacht hat. Am Ende der Lebensgeschichte wurde der Geschichtenerzähler gefragt, was die beste und was die schlechteste Zeit in seinem/ihrem Leben war. Während ich den Lebensgeschichten zuhörte, war mein Kopf beschäftigt. Es waren immer Gedanken da, die mir sagten, dass ich Emotionen zeigen muss, wenn ich an der Reihe bin. Außerdem verglich ich in Gedanken die Geschichten der anderen mit meiner eigenen.
Die Tage des radikalen Ehrlichkeits-8-Tage-Intensivkurses waren alle sehr emotional. Das Konzept, Emotionen nur verbal und nicht durch Handlungen auszudrücken, war für mich neu. Aber irgendwie ergab es Sinn. Ich habe viel mehr Emotionen gespürt, wenn ich ihnen nicht wie in anderen Workshops durch Aktionen entkommen konnte. Um die aufkommenden Emotionen zu bewältigen, nahm ich mir stattdessen Zeit für mich allein. Beim Essen oder auch in der Mittagspause.
Der nackt Tag
Ein ganz besonderer Teil des Workshops zur radikalen Ehrlichkeit war der nackt Tag. Am 4. Tag des Workshops war es nach dem Mittagessen an der Zeit, die Kleidung abzulegen. Nach der Erklärung des Ablaufs zogen sich alle Teilnehmer und auch die Trainer gleichzeitig aus. Einer nach dem anderen standen wir vor der Gruppe und beantworteten Fragen. Bevor die Teilnehmer begannen, gingen die Trainer nach vorne und sprachen über ihren Körper und ihr Sexualleben. So musste keiner der Teilnehmer beginnen, was die Sache entspannter machte.
Trotzdem war es eine ziemliche Herausforderung, nackt vor der Gruppe zu stehen. Nackt zu sitzen, während alle ebenfalls nackt waren, war für mich nicht so schwer. Aber sobald ich ohne Kleidung vor allen stand, kam ich mir ungeschützt vor. Kleidung ist nicht wirklich eine Rüstung. Aber sie hindert andere daran, meinen Körper zu sehen. Die meisten Menschen halten ihren Körper für das, wer beziehungsweise was sie wirklich sind.
Die Fragen, die wir beantworten mussten, waren: Was gefällt dir an deinem Körper und was gefällt dir nicht? Wann hast du zum ersten Mal herausgefunden, dass du ein sexuelles Wesen bist? Wann hattest du zum ersten Mal Sex? Wie viele Sexualpartner hattest du? Und am Schluss bestand noch die Möglichkeit, zusätzlich etwas mitzuteilen.
Am letzten Abend haben wir eine „Kein Talent – Talentshow“ gemacht, bei der jeder die Chance hatte, etwas aufzuführen, auch wenn er oder sie nicht besonders gut darin ist oder gar kein Talent hat.
Anschließend fand noch eine Tanzparty statt, bei der keine Hosen erlaubt waren. Die Unterwäsche war jedoch erlaubt, es war also keine Orgie.
Meine eigene Erfahrung mit dem 8-tägigen Intensiv-Retreat zur radikalen Ehrlichkeit
Für mich persönlich war der Tag meiner Lebensgeschichte der schönste Tag. Ich wurde von einigen Leuten im morgendlichen Austauschkreis getriggert und fing an zu weinen. Obwohl allgemein angenommen wird, dass Weinen eine traurige Sache ist, war es für mich eher eine Erleichterung. Mein Verstand drängte immer darauf, dass ich Gefühle zeigen muss, um ernst genommen zu werden. Das lag vor allem daran, dass mir im Austauschkreis ein paar Tage zuvor etwas passiert ist. Jemand weinte und die Trainer sagten: „Lass dir Zeit.“ Ich sagte etwas und weinte nicht. Ich kann mich nicht an den genauen Wortlaut der Trainer erinnern. Für mich klang es wie „Beeil dich, was willst du damit sagen?“
Es fühlte sich wirklich wunderbar an, einfach nur zu weinen. Mein denkender Verstand war abgeschnitten. Ich habe einfach meinen Körper gespürt. Und ich habe viel gespürt. Es gab ein sehr starkes Kribbeln in meinem Kopf und in meinen Händen, aber auch im Rest meines Körpers. Ich konnte nicht einmal laufen, jemand musste mich auf dem Weg zur Toilette stützen. Ich weinte ungefähr eine Stunde lang. Die anderen fuhren mit der Nachbesprechung der Lebensgeschichten vom Vortag fort.
Und dann war es an der Zeit für meine Lebensgeschichte. Am Morgen war ich sehr nervös. Ich konnte die Nacht zuvor nicht schlafen und musste sehr oft aufs Klo. Mein Geist war ständig mit Gedanken, Vergleichen und dem selbstgemachten Druck, gut zu sein, beschäftigt. Aber in dem Moment, als ich mit meiner Lebensgeschichte begann, war mir einfach alles egal. Ich habe auch gesagt, dass ich denke, dass ich in der Lebensgeschichte keine Emotionen zeigen muss, dies habe ich schon genug getan.
Was ich persönlich am meisten aus diesem 8-tägigen Intensiv-Workshop zu radikaler Ehrlichkeit mitgenommen habe, ist es, klarere Grenzen in meinem Leben zu setzen. Zuerst zu spüren und dann sagen, ob etwas für mich im Moment in Ordnung ist oder nicht. Mir bewusster zu werden, was ich nicht will, und automatisch auch bewusster zu werden, was ich will. Meine Bedürfnisse und Wünsche.
Und was mir auch sehr gut gefallen hat, war das Zitat eines der Trainer: „Ich bin heute scheiße drauf und ich bin ok damit.“
Ich freue mich sehr, wenn du in den Kommentaren deine Gedanken zu diesem Artikel oder deine eigene Erfahrung mitteilst!
Genauso freue ich mich, wenn du teilst, was dich bewegt, was in dir resoniert oder was in dir lebendig wird, wenn du diese Zeilen liest.